Vor kurzem unterhielt ich mich mit einem episkopalen1 Priester über Gnade. Er war sehr nett, und es war ein Vergnügen, mit ihm zu sprechen. Ich fragte ihn, wie die Botschaft der Gnade in der episkopalen Kirche aufgenommen wurde. Er meinte, die Episkopalkirche sei zwar nicht sehr theologisch – die Menschen würden nicht über Theologie reden und debattieren – aber sie sei eine sehr gnadenorientierte Konfession.
Dann wurde mir klar, dass ich das, was er mit „Gnade“ meinte, „Permissivismus“2 [Freizügigkeit] nennen würde.
Eigentlich ist das nicht fair.
Wir waren uns in großen Teilen darüber einig, was es bedeutet, einen gnädigen Gott zu haben.
Wir waren uns zum Beispiel einig, dass Gott jeden Menschen liebt, dass Jesus für jeden gestorben ist, dass niemand das Heil durch Werke verdient und dass Gott auch verkorkste Menschen annimmt – egal wie verkorkst sie sind – wenn sie glauben.
Offen gesagt sind das wichtige Bereiche, in denen wir uns darüber einig sind, was es für Gott bedeutet, gnädig zu sein, und viele Gemeinden [Denominationen] würden uns da entschieden widersprechen. (Wir sind nicht auf die Details des alleinigen Glaubens oder der ewigen Sicherheit3 eingegangen, daher weiß ich nicht, was er dazu sagen würde.)
Aber als wir uns weiter über die Gnade in der Episkopalkirche unterhielten, kam die Botschaft zum Thema Gnade und Homosexualität, Transsexualität und andere Verhaltensweisen. Er hat diese Dinge nicht ausdrücklich erwähnt.Ich denke aber, darum ging es tatsächlich. Und für diesen Priester – wenn ich ihn richtig verstanden habe – bedeutete die Gnade der Episkopalkirche, dass diese Dinge keine Sünden sind. Und da wurde mir klar, dass „Gnade“ für ihn auch Freizügigkeit beinhaltete.
Zugegeben, auch hier könnte man eine gewisse Übereinstimmung zwischen uns finden. Befürworter der Theologie der freien Gnade würden zustimmen, dass Gott Homosexuelle und Transsexuelle liebt. Wir würden sagen, dass diese Sünder, wie alle Sünder, gerettet werden können, indem sie einfach an Jesus glauben, um ewiges Leben zu erlangen, ohne dass sie vorher ihr Leben in Ordnung bringen müssen. Gott nimmt sie an, wie sie sind, durch den Glauben, unabhängig von den Werken. Und wenn sie an Jesus glauben, sind sie auf ewig sicher [ihr ewiges Leben ist unverlierbar], ob sie ihr Leben ändern oder nicht.
Der episkopale Priester würde dem wahrscheinlich größtenteils zustimmen (ich weiß allerdings nicht, wie er über die ewige Sicherheit denkt), außer dass er vielleicht klarstellen würde, dass sie ihr Leben nicht bereinigen müssen, weil es nichts zu bereinigen gibt. Er könnte sagen, dass Gott Homosexualität und Transsexualität und all das andere gutheißt. (Auch hier weiß ich nicht mit Sicherheit, ob das die Ansichten des Priesters waren, aber es ist die Ansicht vieler in der Episkopalkirche).
Merkwürdigerweise stehen wir also in diesem speziellen Kampf auf der gleichen Seite. Und ich denke, der Kampf um das freie Geschenk des ewigen Lebens ist wichtig. Ich möchte, dass Menschen, die sich als Homosexuelle und Transsexuelle identifizieren, wissen, dass Gott sie liebt, dass Jesus für sie gestorben ist und dass auch sie das ewige Leben frei empfangen können, indem sie einfach an Jesus glauben.
JEDOCH—
Was wollen wir nun sagen? Sollen wir in der Sünde verharren, damit das Maß der Gnade voll werde?4 (Römer 6:1, Schlachter 2000)
Die Antwort von Paulus ist „nein“.
Trotz der Behauptungen, dass die freie Gnade die Sünde fördert, haben wir in Wahrheit eine starke Lehre der praktischen Heiligkeit.
Das heißt, Sie sind nicht nur rechtschaffen in Ihrer Position – von Ihnen wird erwartet, dass Sie in Ihrem Verhalten heilig sind.
Wir nehmen die Gnade ernst. Sehr ernst. Aber wenn wir die Gnade ernst nehmen, bedeutet das auch, dass wir die praktische Gerechtigkeit und Heiligkeit ernst nehmen, so wie es Paulus in Römer 6 bis 8 tut.
Wir sollen nicht zulassen, dass die Sünde in unserem “sterblichen Leib“ regiert (Röm 6,12).
Wir sollen unseren Körper nicht zum Werkzeug der Ungerechtigkeit machen (Röm 6,13).
Die Sünde soll keine Herrschaft über uns haben (Röm 6,14).
Wenn Sie sündigen, haben Sie natürlich einen Fürsprecher in Jesus (1. Johannes 1,8.10; 2,1). Wenn Sie im Licht wandeln und Ihre Sünde bekennen, wird Jesus Ihnen jedes Mal vergeben (1. Johannes 1,7.9). Mehr noch: Gott schenkt Ihnen Gnade, damit Sie nicht sündigen (1. Johannes 2,1).
Gnade ist vergebend, aber nicht nachgiebig.
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1 Die Episkopalkirche der Vereinigten Staaten von Amerika (englisch Episcopal Church in the United States of America) ist eine Mitgliedskirche der Anglikanischen Gemeinschaft vornehmlich in den Vereinigten Staaten, aber auch in Haiti, Taiwan, Kolumbien, der Dominikanischen Republik, Ecuador, Honduras, Venezuela und Kontinentaleuropa. https://de.wikipedia.org/wiki/Episkopalkirche_der_Vereinigten_Staaten_von_Amerika
2 https://www.duden.de/rechtschreibung/permissiv : → nachgiebig, wenig kontrollierend, frei gewähren lassend.
3 Die ewige Sicherheit eines Gläubigen ist ein Werk Gottes und beruht darauf, dass die Gabe des ewigen Lebens ein Gnadengeschenk ist und niemals verlorengehen kann. Der Begriff der Sicherheit betont dabei das Wirken Gottes, der die Unverlierbarkeit des Heils garantiert. Jedem, der durch den Heiligen Geist neues Leben bekommen hat, ist dieses Gnadengeschenks sicher, egal ob er dies auch fühlt und seine Sicherheit empfindet.
Heilsgewissheit dagegen ist die bewusste Erkenntnis, ewiges Leben zu haben. Wer Heilsgewissheit hat, ist sich seiner ewigen Sicherheit bewusst. Unser Heil [Besitz des ewigen Lebens] ruht sicher in Gottes Hand, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Sicherheit des Gläubigen ist eine Tatsache, ob er nun Heilsgewissheit hat oder nicht. Quelle: „Die Bibel verstehen“, Chalres C. Ryrie, Seite 371.
4 „… damit die Gnade umso mächtiger werde?“ – Lutherbibel 2017.